Exposézum Projekt Digitalisierung eines Fundes von Glasplattendiapositiven aus dem Archiv-Bestand des Deutschen Meeresmuseums Stralsund und der daraus entstehenden Möglichkeit einer Ausstellung zum Thema: Zustand und Vergänglichkeit im Fundort Archiv - pose et finitatem. |
Vorwort
Archive, Bibliotheken und Museen mit ihren Sammlungen sind die traditionellen Aufbewahrungsorte des kollektiven Gedächtnisses der Menschheit. Seit Jahrtausenden haben sie in allen Zivilgesellschaften ihre Funktion und erfüllen sie bis heute. Sie bewahren Unmengen an Informationen in Texten mit Fakten und Zahlen sowie in Bilder und Zeichnungen auf, ohne die wir die Welt, so wie sie ist, nicht verstehen würden – nicht erklären könnten. Wie aufgeklärt eine Gesellschaft ist, zeigt und wertet sich auch darin, wie sie mit diesem Ort Archiv und seinen Beständen umgeht, ihn wertschätzt und seine Nutzbarkeit erhält. Archive mit ihrer Vielzahl von Dokumenten und Einzelobjekten sind leider auch oft in ihrer Existenz bedroht. Geld fehlt oder Lagerorte sind schlecht, durch Krieg, Brand und Naturkatastrophen wurden manche vernichtet. Einige gingen verloren – manches wird auch wiedergefunden.
Der Fund
Der Fund wurde im Archiv des Deutschen Meeresmuseum Stralsund beim Aufräumen entdeckt. Er besteht aus etwa 800 Glasplattendiapositiven im Format 6 x 9 cm. Manche Glasplatten fand man in einem desolaten Zustand vor: Randverklebungen hatten sich gelöst, einige fielen auseinander. Sie sind bis jetzt provisorisch in Holzkästen abgelegt. Nach dieser ersten Feststellung bestand nun dringender Handlungsbedarf, sich des Fundes anzunehmen, um folgende Fragen zu beantworten. Was beinhalten die Bilder? Wo kommen sie her? Welchen archivarischen, dokumentarischen bzw. inhaltlichen Wert haben sie. Und wie gehen wir nach Klärung der vorangestellten Fragen damit künftig um? Der Förderverein des Deutschen Meeresmuseums Stralsund nahm sich der Sache an und gab eine inhaltliche Sicherung durch digitales Abfotografieren an ein Vereinsmitglied in Auftrag. Das Projekt „Digitalisierung eines Fundes von Glasplattendias aus dem Archiv des Deutschen Meeresmuseum Stralsund“ wurde gestartet. Die Digitalisierung wurde inzwischen vollzogen, die Datensätze liegen vor. Dieser Arbeitsschritt ermöglicht es nun, den Hort von Glasplatten anhand ihrer Vergrößerung auszuwerten: Die Originale müssen nun nicht mehr angefasst werden, sie werden geschont.
Die Werte
Nach einer, im wörtlichen wie im sprichwörtlichen Sinne oberflächlichen Anschauung wurden zwei grundsätzliche Werte sichtbar. Der eine beinhaltet den vermuteten, aber noch zu erforschenden, wissenschaftlich historischen Archivwert. Der andere weist einen, beim formalen Betrachten der Glasplatten, auffallenden grafisch-ästhetischen Bildwert auf.
Der Inhalt – Die erste Wertebene des Fundes
Nach einer ersten Durchsicht ergab sich folgende grundlegende Erkenntnis:
Alle vorliegenden Glasplattendiapositive sind reine Reproduktionen von Bildern, Grafiken oder Textfragmente zu vorwiegend maritimen Themen aus den unterschiedlichsten Regionen der Welt die wahrscheinlich in der Zeit von der Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden sind.Man kann davon ausgehen, dass diese Glasplattendias für Lichtbildvorträge angelegt und eingesetzt wurden oder sie wurden als Speichermedium in einem Archiv genutzt. Man könnte auch von einer Verfilmung von Dokumentenmaterial sprechen. Im urheberrechtlichen Sinne haben die Glasplattendias nicht den Anspruch eines Originals. Sie sind lediglich die Reproduktion von unterschiedlichen Vorlagen. Betrachtet man den Fund als Ganzes, erscheint er als zusammenhanglos, darf aber dadurch nicht als wertlos angesehen werden. Der Fund stellt keine Sammlung in Kategorien dar, sondern ist eher ein Sammelsurium. Jede Einzelplatte trägt in sich eine interessante Bild- bzw. Textinformation. So sind z. B. gestrandete Schweinswale oder eine Küstenlandschaft sowie Ansichten von Hafenanlagen, Werften und Werkshallen zu sehen. Auch Buchtexte sowie Artikel aus Zeitschriften, Tabellen, Seekarten, Zeichnungen von Tieren, Pflanzen, Maschinenteilen oder Anlagen wurden reproduziert. Das weist auf eine sachbezogene Verwendung hin. Schriftliche Aufzeichnungen zu diesem Fund liegen nicht vor. Die Bilder können nur aus sich selbst heraus, aus den bildlichen Informationen oder Textfragmenten, interpretiert werden. Selbst die auf den Glasplatten aufgeklebten kleinen Beschriftungen geben kaum Auskunft über so wichtige Informationen wie Ort, Zeit, Bildinhalt, Verwendung, Urheber oder Provenienz.
Daraus lässt sich die Vermutung ableiten, dass diese Glasplatten einmal aus einem größeren Bestand einer Universität, eines Instituts, eines größeren Unternehmens oder irgendeiner wissenschaftlich/dokumentarisch arbeitenden Einrichtung stammen. Vermutlich wurden sie nicht mehr gebraucht oder auf Grund ihrer/einer Beschädigung aussortiert. Sie landeten in vier hölzernen Karteikästen, wurden Beiseite gestellt und sind wahrscheinlich schlichtweg vergessen worden. Trotz allem ist das Sammlungsfragment als ein informelles Kulturgut von historischem Wert und Interesse anzusehen und erwartet a priori einen respektvollen Umgang.
Ein Verwendungsbeispiel von Glasplattendias
Die Kunsthistorikerin Susanne Hinsching (Leiterin der Museen der Stadt Nordhausen) erinnerte sich bei einer Recherche-Befragung durch den Autor daran, dass sie diese Form von Glasplattendiapositive noch während ihres Studiums Ende der 1980er Jahre an der Humboldt-Universität Berlin für Vorträge genutzt hat. Was für Sie immer mit quälenden zeitaufwendigem Suchen und wieder Einsortieren einherging. Umständliche und veraltete Projektoren machten ihre Verwendung ebenso unbeliebt. Elektronische Datenverarbeitung (EDV) und der technische Fortschritt bei der Bilddigitalisierung in den 1990er Jahren sowie die möglich gewordenen Präsentationen von Bildmaterial auf Computer-Monitoren oder über Projektionen veränderten – ja sie verdrängten – den Gebrauch von Glasplattendias wesentlich: Sie kamen aus der Mode.
Die Ästhetik – Die zweite Wertebene des Fundes
Von manchen der etwa 800 Glasplatten ging beim Betrachten eine interessante Optik aus, die neugierig machte und weitere Überlegungen über die Vergänglichkeit von Archivmaterial anstieß.
Was ist passiert? Was zeigt sich? Ist diese Ästhetik schon eine Kunstform oder kann das weg?
Auf einigen Vergrößerungen ist zu erkennen, dass etwas während der Lagerung auf die Glasplatten eingewirkt haben muss. Es ist zu vermuten, dass eine Flüssigkeit, im einfachsten Fall Wasser, die Gelatineschicht die das Bild trägt, aufgeweicht hatte. Infolgedessen haben sich die eingelagerten Bild-Pigmente verschoben oder verdichtet, was dazu führte, dass sich Bildteile verzerrten, verschmolzen oder auflösten. Der Vorgang ist grob vergleichbar mit einer Aquatinta oder Aquarelltechnik, so wie wir sie aus der Malerei/Grafik kennen. Durch eine spätere Austrocknung wurde dieser Prozess aufgehalten. Oder es hat sich nach der Austrocknung ein Art Krakelee, ähnlich den feinen Haarrissen auf altem Porzellan, gebildet. Das Bild auf einer Glasplatte stabilisierte bzw. konservierte sich wieder. Es wurde in seiner Form und damit auch seinem Inhalt verändert.
Rezeption
Die neu entstandenen grafischen Strukturen wirken nun auf die übriggebliebenen Bildteile der ursprünglichen Abbildung. Auf manchen Glasplatten ergibt sich beim näheren Betrachten dadurch ein neues Narrativ – einzig und allein geschaffen durch die Einwirkung der Zeit. Die historischen Motive verbinden sich mit den Artefakten und vermitteln Themen wie Erinnerung, Vergessen, Verdrängung und Vergänglichkeit. Dieser Auswahlprozess, also das Suchen nach einer Interpretationsmöglichkeit in den 800 Fundstücken, versteht sich bei diesem Projekt als die kreative künstlerische Leistung. Die konkrete Interpretation der Bilder – ihrer „signature transitoire“ – ist jedoch, wie bei jedem anderen Kunstwerk auch, dem Betrachter überlassen. Die Bedeutung des Einzelstückes als Archiv-Dokument ging verloren. Die Glasplatte löst sich aus ihrem Kontext und „mutiert“ zur grafischen Arbeit. Sie wird zum Kunstobjekt mit Interpretationsfläche.
An drei Bild-Beispielen sei das neu entstandene Narrativ dargestellt:
So wird aus dem Bild einer Gießerei für Schiffsteile nun ein Bild, in dem Hitze und Zeit gleichermaßen Metall, Maschinen und Fabrikhalle zum Schmelzen bringen.
In einem anderen Bild führt der Verfall einer Abbildung eines Dreimasters zu einem Rahmen, der einer arktischen Expeditionskarte zum Verwechseln ähnlich sieht.
In einem dritten Foto werden Gesichter und Körper von einzelnen Matrosen aus dem Bild gelöscht, ähnlich einer mit der Zeit verblassenden Erinnerung. Siehe Anhang
Die Ausstellung als ein Beitrag zum Thema Vergänglichkeit
Das vorliegende Fragment von Glasplattendiapositiven aus einem Bestand wurde physisch geschädigt, man hat es nicht bemerkt, man hat es nicht verhindern können. Das kann wieder passieren! Wie alle Dinge, sind auch diese Glasplattendias den Unbilden des Lebens ausgesetzt. Beim genauen Ansehen der Bilder wird das Thema „Vergänglichkeit“ wie schon erwähnt, erkennbar. Zum Vergleich oder Analogieschluss bzw. erweiterten Verständnis dieses Begriffes sei das Werk „Apple“ der Fluxus-Künstlerin Yoko Ono zitiert. Sie präsentierte 1966 in einer Londoner Galerie einen Apfel auf einer Acrylplatte und zeigte damit wohl einerseits den momentanen Zustand und wollte gleichzeitig auf den natürlichen Prozess der Vergänglichkeit des Apfels aufmerksam machen. Der „Yoko Ono Apfel“ wurde von John Lennon, als er die Ausstellung besuchte, in despektierlicher Art einfach aufgegessen. Das war das finale Ende des Kunstwerkes „Apple“. Yoko Ono war darüber sehr sauer. Trotzdem „erkannten sich beide“ im alttestamentarischen Sinne und daraus wurde eine große Beziehung. Und ich hoffe, man kann zu diesen Bildern auch eine Beziehung entwickeln – sich in diese Bilder verlieben und das Thema Vergänglichkeit erkennen. Yoko Onos „Apple“ ist verschwunden! Die Glasplattendiapositive zerfallen zwar nicht so schnell wie ein Apfel, sind es aber vielleicht irgendwann doch, wenn wir uns nicht kümmern.
Das Ziel
Eine Wiederbelebung bzw. die Auseinandersetzung mit diesem Bestandsfragment, soll/kann für die Öffentlichkeit wie für Fachkreise als Mahnung verstanden werden, für die Erhaltung unseres kollektiven Gedächtnisses immer wieder einzutreten. Etwa 800 digitale Bilddatensätze liegen vor und warten auf Neugierige, auf Engagierte, auf Fähige, die sich ihrer Auswertung oder der Erforschung annehmen können, damit der Fund im Archiv des Deutschen Meeresmuseums Stralsund wieder zugänglich wird.
Aus dem Projekt „Digitalisierung eines Fundes von Glasplattendiapositiven aus dem Archiv-Bestand des Deutschen Meeresmuseums Stralsund“ soll eine sehenswerte Foto-Ausstellung entstehen, die noch vor der Ermittlung des wissenschaftlichen Archivwertes den ästhetischen Bildwert zeigt – im wörtlichen Sinn ausdruckt – und Ausdruck verleiht. Die Inspiration aus so einer Präsentation kann helfen, in der Öffentlichkeit sowie bei Verantwortungsträgern ein Problembewusstsein für diesen Hort zu erzeugen, um damit für weiterführende Initiativen und finanzielle Mittel zu werben. Hier gilt auch das Lateinerwort „pars pro toto“ (Ein Teil steht für das Ganze): Dieses Schicksal steht für viele Fälle. Somit hat das Ausstellungsprojekt einen klaren kulturpolitischen Auftrag.
Verfasst von Roland Obst
19.02.2018